Fast wie bei Picasso

Ausstellung im Kunst-Kontor Potsdam
Potsdamer Neueste Nachrichten (PNN) 11.09.2015

 

 

 

 

 

Bildtext: Das Porträt einer jungen Frau ist mit einer Schlitzkamera aufgenommen. Andere Bilder sind komplizierter zu entschlüsseln; die Künstler sind gerne dabei behilflich. Foto: Koschies

Seit 25 Jahren arbeiten Koschies mit einer Schlitzkamera, dabei entstehen außergewöhnliche Bilder. Jetzt zeigen sie ihre Bilder im Kunst-Kontor in Potsdam.

Potsdam - Vergessen Sie alles, was Sie je über Bildbetrachtung gelernt haben. Wer sich mit den Fotos von Birgit und Axel Koschies beschäftigt, muss das Sehen neu lernen. Einen Schalter im Kopf umlegen. Zumindest sofern man den Ehrgeiz besitzt, diese Fotos – die streng genommen gar keine sind, sondern Filme – zu deuten, zu erklären. Zu verstehen. Man kann die Bilder selbstverständlich einfach als künstlerisches Werk wahrnehmen, ihre Ästhetik wirken lassen. Spannender ist definitiv das Erstere. Und weil das nicht so einfach ist, werden Birgit und Axel Koschies nicht müde, wieder und wieder das Prinzip ihrer Aufnahmen zu erklären. Am kommenden Wochenende sind die beiden Babelsberger in der Galerie Kunst-Kontor von Friederike Sehmsdorf zu Gast: Im Rahmen der Kunst-Genuss-Tour wird ihre Ausstellung „Mirakel“ eröffnet.

Außergewöhnliche Technik mit Schlitzkamera

Gefeiert wird zudem ein Vierteljahrhundert Koschies, ihr gemeinsames Projekt, das mit der Entdeckung Schlitzkamera begann. Seitdem arbeiten beide fast ausschließlich mit dieser außergewöhnlichen Technik, bei der Grundprinzipien des Fotografierens komplett umgekrempelt werden. Nicht das Objekt vor der Kamera bewegt sich, sondern der Film in der Kamera. Der Filmstreifen läuft wenige Sekunden lang hinter einem schmalen vertikalen Belichtungsschlitz entlang. Der ist immer geöffnet – der Film wird während er läuft belichtet. Das Ergebnis ist ein langes Querformat, das man wie einen Zeitstrahl von links nach rechts lesen muss. Von links nach rechts ist chronologisch aufgezeichnet, was sich gerade vor der Kamera befand. Deshalb wird die Schlitzkamera auch als Zielkamera bezeichnet. Unbestechlich zeichnet sie auf, welcher Läufer, Schwimmer oder welches Pferd als erstes über die Ziellinie kommt.

Die Koschies sehen ihr Verhältnis zur Kamera irgendwie auch ein bisschen sportlich. Ehrgeizig versuchen sie seit 25 Jahren, immer wieder neue Ideen mit dieser Kamera umzusetzen. Und werden dabei manchmal auch von den Zufallsprodukten überrascht.

Unter 50 Versuchen ein Bild dabei

Vor vier Jahren zeigten sie eine umfangreiche Ausstellung zum Thema 100 Jahre Studios in Babelsberg. Dazu holten sie Potsdamer Regisseure vor die analoge Schwarz-Weiß-Schlitzkamera. „Opfer“ nennt Axel Koschies die Fotomodelle. Denn einfach ist das nicht: Während Birgit Koschies die Kamera bedient, führt Axel Regie, lässt die Akteure wieder und wieder vor der Kamera entlanglaufen, sich so oder so bewegen, springen, mit Accessoires wie Kisten, Sportgerät oder Musikinstrumenten hantieren. Unter 50 Versuchen, sagt er ein wenig schelmisch, findet sich ein brauchbarer. Und auch das weiß man erst, nachdem man den Filmstreifen durch das Entwicklerbad gezogen hat. Wie früher.

Seit einigen Jahren benutzen sie auch eine digitale Schlitzkamera, die in Farbe aufnimmt. Nun ist es zwar bunt, das Prinzip jedoch ist geblieben. Und wenn man den beiden zuhört, scheint es, als hätten sie viel Spaß dabei, den Betrachter zu verwirren. „Wir dokumentieren die Zeit. Aus einer zeitlichen Abfolge wird eine räumliche“, sagt Birgit Koschies. Ist das Model genauso schnell wie der Film, erscheint dessen Abbild scharf und genau. Differenzieren die Zeiten, entstehen die wildesten Effekte und man muss rätseln, um sie zu entschlüsseln.

Auch Porträts sind dabei

Die Ausstellung zeigt Bilder der ersten Fotoreihe. Mit Modell Andreas Dresen zum Beispiel, der es sich relativ einfach machte, auf dem Boden sitzen blieb und nur den Oberkörper bewegte. Mehrfach sind die Arme in diversen Positionen abgebildet, der Unterleib als Ganzes verwischt, hingefläzt über die ganze Breite.

Neu im Portfolio sind Porträts. Die junge Frau hat sich mit dem Hinterkopf vor die Kamera gestellt und dann ihren ganzen Kopf um 360 Grad vor dem Belichtungsschlitz gedreht, sich einmal abgerollt. Die Augen schauen aus unterschiedlichen Positionen, in verschiedene Richtungen. „Das hat ja irgendwie schon Picasso gemacht“, sagt Friedrike Sehmsdorf. Die Galeristin ist begeistert. Die Bilder haben sogar auch etwas mit Einstein zu tun, sagt sie: Zeit und Raum, alles muss neu sortiert werden.

Heute werden solche Schlitzkameras von Drohnen benutzt, sagt Axel Koschies, zum Abscannen der Erdoberfläche. So wie man im Krieg die Feindlinien abgescannt hat – und heute vom Satelliten aus die Erde vermisst. Friedrike Sehmsdorf kann den Bildern auch eine ganz nüchterne, ästhetische Wirkung abgewinnen. Was andere mühsam mit digitaler Bildbearbeitung erreichen, schafft die Schlitzkamera von ganz allein. Auf ein Fleckchen Erde gehalten, werden die bunten Farbpigmente des Sandes als feine, parallele Streifen abgebildet, wie eine Tapetenbahn. Und ein grüner Eichenlaubzweig flutschte so vor die Kamera, dass er teilweise verwischte, teilweise scharf blieb. Und mittendrin sich zwei grüne Löcher wie die Augen eines Gesichts auftaten. „Sehen Sie, wir werden beobachtet“, sagt Axel Koschies begeistert.

 

Erschienen am 11.09.2015 auf Seite 22

Von Steffi Pyanoe