NEUES VON KERWIEN
BILD: DIE HEMDEN
DES HERRN K.

Treppen in die Unendlichkeit

Die Galerie Kunstkontor zeigt Bilder des Autodidakten „Kerwien“

Potsdamer Neueste Nachrichten 16.10.2012

Nein, eigentlich habe der Künstler keine Ausbildung an einer Kunstakademie genossen, er sei Autodidakt, erklärt die Galeristin Friederike Sehmsdorf. Seine vier Kinder und die Beschäftigung mit ihrer Malerei hätten den Vater animiert, es dem Nachwuchs gleichzutun. So fing „Kerwien“ an zu malen.

Entdeckt hat die Galeristin Kerwien auf einer Kunstmesse. Sie war von seinen kleinen, penibel ausstaffierten Ölbildern fasziniert, erkannte die handwerkliche Akkuratesse, mit der Kerwien Schicht auf Schicht in seinen Bildern übereinanderlegt. „Letztlich ist natürlich die Stimmung wichtig und das, was das Bild transportiert“, sagt Friederike Sehmsdorf. Was das ist, kann sie allerdings auch nicht genau benennen, glücklicherweise. Denn die Bilder bewahren ihr Geheimnis, schaffen eine sonderbar entrückte Stimmung, laden ein, sich immer wieder an den detailreichen, bis ins kleinste durchgearbeiteten Räumen zu erfreuen.

Kerwiens Themen sind unspektakulär. „Zwei Stühle am Meer“, „Gestrandet“, „Gescheiterte Hoffnung“. In Kerwiens Welt werden die kleinen Dramen der tatsächlichen Welt in zumeist spärlich möblierten Zimmern oder vor weitgehend menschenleerer Innenstadtkulisse allenfalls angedeutet. Häufig versteinern sie zum beziehungsreich arrangierten Stillleben. Zwar ist die gegenständliche Malerei wieder salonfähig und hat gegenwärtig in Potsdam einen ausgesprochen starken Auftritt. Dennoch liegt Kerwien ein wenig neben „Neuer Leipziger Schule“ und alter Leipziger Maltradition, wie sie Tübke, Heisig und Rink präsentieren. Malerei ist bei dem Autodidakten kein akademisch geformter großzügiger Pinselrausch, sondern ein vorsichtiges Tasten nach den Möglichkeiten, Innenwelten und Außenansichten zu einem stimmungsvollen Ganzen zu vereinen.

Kerwien arrangiert Blumen und Stühle, lässt Hemden auf dem Balkon eines tristen Wohnblockbalkons wehen und stellt identifizierbare Dresdener Gebäude auf ein weites leeres Feld, um daneben eine abbruchreife Ruine zu positionieren. Die Menschen auf seinen Bildern sind in Lektüre versunken, sitzen vereinsamt nebeneinander in dunklen Ecken oder hämmern mit unendlicher Geduld kleine quadratische Pflastersteine in eine unüberschaubar weite Fläche. Es entsteht eine surreal entfremdete Atmosphäre. Krähen fliegen vor dunklen Wolken, Rundbögen und Schachbrettmuster verkünden Weite und Unendlichkeit. Kerwien schielt nicht nach zeitgemäßen Themen, sondern malt in ganz klassischer Weise, augenscheinlich für die Ewigkeit.

Zwar finden sich in seinen Bilden aktuelle Zeitbezüge – hier eine rostige Eisenbahnbrücke, dort eine unrenovierte Häuserfront –, aber letztlich interessiert den Maler die Erschaffung einer ganz eigenen Welt. Die ist zuallererst eine Innenwelt. Anklänge an Felix Nussbaum oder Futuristen wie Umberto Boccioni lenken kaum davon ab, dass es Kerwien um die Balance der seltsam vereinzelten Gegenstände und Menschen geht. Vor einem Abgleiten in die verkitschte Possierlichkeit gängigen Kaufhaussurrealismus rettet den Maler seine Sorgfalt und die Genauigkeit, mit der er seine Szenarien baut und ausstaffiert. „Wie er auch die unspektakulären Partien des Bildes behandelt, da zeigt sich die Qualität der Malerei“, so Friederike Sehmsdorf. Die verfallenden Altbauten, die harten Schlagschatten auf Treppenstufen, die ins Unbestimmte führen, all das ist mit einer Sorgfalt gemalt, die den Blick immer wieder auf das Bild lenkt und immer neue Entdeckungen verspricht. Gelegentlich streut Kerwien Zitate altehrwürdiger Genremalerei ein: die geschälte Zitrone, das welke Blatt. Die Preziosen wirken nicht aufdringlich, sondern fügen sich still ins beschauliche Bild.

Erschienen am 16.10.2012 auf Seite 20

Von Richard Rabensaat


» Nächster Artikel