STRAWALDE: RETROSPEKTIVE
IM LINDNEAU_MUSEUM
IN ALTENBURG

Strawalde: Der Truffaut vom Prenzlauer Berg

Handelsblatt Online 20.02.2012

Gar nicht so einfach ist dieser Künstler zu fassen. Jürgen Böttcher, genannt Strawalde, malt, zeichnet, dichtet, filmt und liebt die Frauen. Ein Jahr nach seinem 80. Geburtstag feiert ihn das Lindenau-Museum in Altenburg mit einer großen Retrospektive.

Der Künstler malt, und filmt und dichtet. Zum Beispiel so: „Ich bin der Größten einer, / noch kennt mich fast noch keiner, / (…) / Im Himmel bin ich schon bekannt / (oh wundersames Heimatland).“ Jürgen Böttcher, der Dokumentarfilmer, der sich als Maler nach seinem in der sächsischen Oberlausitz gelegenen Kindheitsdorf Strawalde nennt, ist ein Mann vieler Talente. Nachträglich zum 80. Geburtstag im vergangenen Jahr richtet ihm nun das Lindenau-Museum Altenburg eine große Retrospektive aus. Sie rückt den ganzen Böttcher/Strawalde in den Mittelpunkt: den Maler, Zeichner, Gelegenheitsdichter, den Filmemacher, Frauenfreund und Zampano, kurz: den großen Künstler und die großangelegte Kunstfigur.

Gar nicht so einfach, den Mann zu fassen. Das mag an den Haken und Schlenkern seiner Biografie liegen. Das hochmusikalische Kind erlebt das Ende der Nazizeit als Trauma und den Einzug der Russen als Befreiung. Ab 1949 studiert Böttcher Malerei in Dresden – und gerät, wie sein Lehrer Wilhelm Lachnit, mitten in die stalinistische Formalismusdebatte. Nach dem Kunststudium unterrichtet er an der Dresdner Volkshochschule. Zu seinen Eleven gehört ein junger Mann, der seinen Lehrer später an Bekanntheit überflügeln wird. Ralf Winkler nennt sich als Maler A. R. Penck und wird nach der Übersiedlung in den Westen eine Kunstmarktgröße.

Jürgen Böttcher gen. Strawalde: "Nach Giorgione", 1954. (Ausschnitt),
Quelle: Strawalde, Lindenau-Museum Altenburg

Hätte man ihn einfach nur machen lassen

Und dann der Film: Um nach Berlin zu kommen, studiert Böttcher ab 1955 Filmregie in Potsdam-Babelsberg. Er landet beim Defa-Studio für Dokumentarfilme. Schon sein vierter Film, „Drei von vielen“ (1961) über die Dresdner Künstlerfreunde um Peter Herrmann und Peter Graf, wird verboten. Gleichwohl wird Böttcher zum Vorbild für jüngere Filmemacher. Das Malen betreibt er parallel, Ausstellungen hat er zu DDR-Zeiten nur wenige. Die Wende von 1989 kommt zumindest für den Regisseur zu spät. Sein einziger Spielfilm „Jahrgang 45“, 1966 im Rohschnitt abgebrochen und verboten, wird endlich aufgeführt und zum Kultfilm: Truffauts zärtlicher Extremismus im Prenzlauer Berg! Was hätte aus diesem Land und seiner Kunst werden können, hätte man Leute wie ihn einfach nur machen lassen.

Jutta Penndorf und Matthias Flügge, die Kuratoren der Altenburger Ausstellung, vermeiden den Begriff Doppelbegabung. Formal gibt es Korrespondenzen zwischen Filmstils und Gemälden, zwischen den nach 1990 auf weltweiten Reisen geschossenen Polaroids und den Anfang der 80er-Jahre entstandenen Kunstpostkarten-Übermalungen Alter Meister: flirrendes Helldunkel neben kalligrafischer Disziplin; Abstraktes zeitgleich neben Gegenständlichem. Arbeitet Strawalde farbig, dann tief aus dem Bauch, wie ein echter Dresdner. Eine Handschrift im Sinne leichter Widererkennbarkeit sucht man vergebens.

Jürgen Böttcher gen. Strawalde: "Stilllebenlandschaft I", 1982. (Ausschnitt)
Quelle: Strawalde, Lindenau-Museum Altenburg

Stilpluralismus als Überlebensprinzip

Es ist seine innere Haltung zur Welt, die, unabhängig vom Medium, verbindend wirkt: Von Poesie spricht der Künstler selbst gern, romantisches Temperament bleibt unübersehbar, auch wenn er eine großformatige Meereslandschaft 1996 mit „Verdammte Romantik“ betitelt. Strawalde pflegt Humor und Theatralik. „Noch dem abstraktesten Bild ist ein tiefes Interesse am menschlichen Empfindungsreichtum eingeschrieben“, resümiert Matthias Flügge.

Auf Monumentales muss der Maler lange verzichten: Seine Ost-Berliner Neubauwohnung erlaubt bestenfalls Mittelformate. Collagen und Überlagerungen, Material- und Stilpluralismus werden künstlerische Überlebensprinzipien. Legendär sind die drei Experimentalfilme von 1981, deren Thema ist die serielle Übermalung von Kunstpostkarten, 25 Ost-Pfennige das Stück. Ideen wachsen jenseits von Repräsentationspflichten. Strawaldes Kunstgeschichte lebt: von der Picasso- und Cézanne-Rezeption in Gemälden wie „Harlekin (Dobsi)“ von 1959 bis zu luftig-assoziativen Hommage-Bildern an Turner und Pontormo aus den letzten Jahren.

Mittlerweile sind auch die Formate gewachsen: In wunderbaren Filmaufnahmen sieht man Strawalde malend und singend beim dreitägigen Kunstmarathon „L’autre Allemagne hors les Murs“ 1990 in Paris eine riesige, auf dem Boden liegende Leinwand bearbeiten. Da war ein Knoten geplatzt, dem sich bald auch die Ateliergröße anpasste.

Von der Art Cologne abgelehnt

Schwieriger war die Anerkennung des Marktes, die der gute Freund Wolf Biermann schon 1990 vorausgesagt hatte. 2000 und 2002 bewarben sich eine Hamburger und eine Leipziger Galerie mit Strawalde-Einzelausstellungen zur Art Cologne und wurden mit fast wortgleichen Gutachten abgelehnt: „Seine eigentliche malerische Arbeit begann erst mit dem Fall der Mauer. Der Künstler Strawalde benutzt in seinen Bildkompositionen überwiegend Elemente, die nach Auffassung des Zulassungsausschusses dem Künstler A. R. Penck zugeordnet werden müssen.“ Eine groteske Behauptung.

Vor diesem Hintergrund ist die Altenburger Retrospektive nicht nur eine gelungene Ausstellung, sondern aktive Wiedergutmachung an einem quicklebendigen Helden der Geschichte. Vertreten wird Strawalde unter anderem von den Galerien Born (Born/Darß und Berlin), Art Trove (Singapur) und Kunst-Kontor Sehmsdorf (Potsdam). Aktuelle großformatige Gemälde kosten bei Born 38.000 Euro, eine typische, 1991 entstandene Collage 8.500 Euro. Auf Auktionen war Strawalde in den letzten Jahren nicht mit größeren Arbeiten präsent.

Lindenau-Museum Altenburg, bis 29. April. Das Katalogbuch (Verlag für moderne Kunst Nürnberg) kostet in der Ausstellung 28 Euro, im Buchhandel 38 Euro.

Von Michael Zajonz

Bilder entnommen Handelsblatt-Online
http://www.handelsblatt.com/panorama/kunstmarkt/strawalde-der-truffaut-vom-prenzlauer-berg/6230124.html

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